Rufbereitschaft kann Arbeitszeit sein
Immer wieder stellt sich die Frage, ob eine sogenannte »Rufbereitschaft« genauso wie der „Bereitschaftsdienst“ Arbeitszeit ist und somit bezahlten Arbeitszeit ist. Nach bisheriger Rechtsprechung gilt im deutschen Arbeitsrecht:
- Von einem sogenannten »Bereitschaftsdienst« spricht man, wenn ein Arbeitnehmer sich am Arbeitsplatz zur Aufnahme der Arbeit bereithalten muss. Er ist insofern vom Arbeitgeber in der Wahl seines Aufenthaltsortes eingeschränkt und kann während dieser Zeit keine privaten Tätigkeiten ausüben. Folge: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit und mit dem Mindestlohn zu vergüten.
- Die sogenannte »Rufbereitschaft« unterscheidet sich vom Bereitschaftsdienst darin, dass der Arbeitnehmer nicht am Arbeitsplatz anwesend sein muss, sondern sich andernorts zur Verfügung hält. Er ist dann nicht so sehr in der Ausübung seiner privaten Tätigkeiten eingeschränkt. Folge: Bei Rufbereitschaft handelt es sich grundsätzlich nicht um Arbeitszeit. Lediglich die Zeit des tatsächlichen Arbeitseinsatzes ist zu vergüten.
Ausnahme: Rufbereitschaft ist jedoch dann zu vergüten, wenn der Arbeitnehmer so sehr in seiner freien Entfaltung eingeschränkt ist, dass es einem Bereitschaftsdienst gleichkommt. Dies ist unter anderem der Fall, wenn der Arbeitnehmer sich zwar Zuhause aufhalten darf, aber jederzeit unverzüglich einsatzbereit sein muss.
Nun gab unter anderem folgender Fall Anlass, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) neuerlich mit der Frage zu befassen.
Ein Feuerwehrmann aus Offenbach darf seine Bereitschaft zwar außerhalb der Dienststelle verbringen, jedoch hat er die Vorgabe, binnen 20 Minuten in Arbeitskleidung und mit dem Einsatzfahrzeug die Stadtgrenze zu erreichen. Er war der Ansicht, dass seine in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftszeiten aufgrund der mit ihnen verbundenen Einschränkungen in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten seien.
Das zuständige Gericht reichte den Fall zur Vorabentscheidung beim EuGH ein. Die Richter stellten klar, Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers ist in jedem Fall rechtlich entweder als »Arbeitszeit« oder als »Ruhezeit« einzustufen ist. Die beiden Begriffe schließen sich gegenseitig aus.
»Arbeitszeit« liegt dabei immer vor, wenn der Arbeitnehmer sich an seinem Arbeitsplatz befinden muss, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist. Umgekehrt liegt »Ruhezeit« nicht immer zwangsläufig vor, wenn der Arbeitnehmer gerade nicht für den Arbeitgeber tätig ist.
Folge: Rufbereitschaft fällt unter »Arbeitszeit«, wenn der Arbeitnehmer währenddessen objektiv ganz erheblich beeinträchtigt ist, sich seinen eigenen Interessen zu widmen (z.B. wird der Arbeitnehmer in dieser Zeit ganz erheblich in seiner Freizeitausübung eingeschränkt).
Der EuGH betonte zu gleich, es ist Sache der nationalen Gerichte, eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls vorzunehmen und anhand dessen über eine Einstufung der Rufbereitschaft als »Arbeitszeit« zu entscheiden. Ob eine derartige Beeinträchtigung vorliegt, richtet sich nach nationalen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und Vorgaben des Arbeitgebers. Denn es besteht kein Automatismus, wenn keine Verpflichtung besteht, am Arbeitsplatz zu bleiben.
Miteinzubeziehen ist dabei auch, wie die konkrete Frist aussieht, innerhalb derer der Arbeitnehmer seine Arbeit aufnehmen muss. Dies ist anhand des konkreten Falls zu beurteilen.
Beispiel:
Die Einschränkungen wie etwa die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, sind mit den Erleichterungen gegeneinander abzuwägen (z.B. steht ein Dienstfahrzeug bereit, mit dem mit Blaulicht schnell zum Einsatzort gefahren werden darf). Außerdem ist die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze zu berücksichtigen, sofern eine objektive Schätzung möglich ist.
Eine Äußerung dazu, wie die Rufbereitschaft zu vergüten ist, hat der EuGH aktuell jedoch nicht getroffen. Er hat jedoch darauf hingewiesen, dass Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden dürfen – selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen sind.
EuGH, Urteil vom 9.3.2021, C-580/19